Ein uralt menschliches Gedicht
JF-Serie, Teil II: Richard Wagners Romantik und Erlösungssehnsucht / „Lohengrin“ eröffnet neue Weltsicht
hören statt lesen
Wagners Werk und Leben
sind ineinander verwobene
Variationen des Weges zum
„Kunstwerk der Zukunft“. Dieser Weg
ist nicht geradlinig, es gibt Bruche, uberraschende
Volten und Selbstinterpretationen,
in denen Leben und Theorie
in Ubereinstimmung gebracht werden
sollten. So hat Wagner oft seine fruheren
Werke auf eine Weise umgedeutet,
die erst aus einer spateren Warte heraus
plausibel war.
Dennoch liegt Leben und Werk eine
Folgerichtigkeit zugrunde, eine Logik
der Entwicklung der Person und des
Denkens des Menschen Richard Wagner,
in der nicht nur ein individuelles
Kunstlerdrama sichtbar wird, sondern
in der sich auch der historische Wandel
des Ubergangs von den geschlossenen
kollektiven Institutionen der Agrarwirtschaft
mitsamt allen daran geknupften
Rechten und Pflichten in die offene Gesellschaft
der freien Konkurrenz spiegelt.
Erst vor diesem Hintergrund ist ja Wagners
„Kommunismus“ denkbar.
In Wagners Leben, Schriften und
Musikdramen findet die Herausbildung
dieser Moderne ihren Niederschlag, wird
reflektiert und kommentiert und schafft
sich zuletzt, in „Parsifal“, die hochaktuelle
Utopie ihres eigenen postmodernen
Endes. Wagners Werk ist eine Signatur
der Gegenwart, sein Schopfer unser
Zeitgenosse.
Das Individuum nimmt im Denken
der westlichen Moderne eine Zentralstellung
ein. Nirgendwo auserhalb des
christlich gepragten Kulturkreises wird
es als Monade aufgefast, als Ebenbild
Gottes einzigartig und unersetzlich. In
der Romantik gewann die Figur des weltverlassenen
und die Welt verlassenden
Vereinzelt-Einzelnen neues Interesse,
selbstverstandlich auch als Ausdruck der
Resignation angesichts der politischen
Verhaltnisse. Insbesondere in Deutschland
feierte das von den Nachsten und
der Gemeinschaft abgeschnittene, der
Welt gleichsam abhanden gekommene
Individuum, wie es in Friedrich Ruckerts
Gedicht heist, sein melancholisches Debut
als Zentrum der Kulturschopfungen.
Mythische Weltsicht aller
Völker durch die Zeiten
Schon in „Hollander“ und „Tannhauser“
spielt Wagner die Themen Odyssee
und Erlosung durch. Der Grundzug des
Mythos vom Fliegenden Hollander, so
schreibt er in „Eine Mitteilung an meine
Freunde“ (1851), fand in Gestalt des
herumirrenden Odysseus einen fruhen
Ausdruck. So tritt uns der Vereinzelt-
Einzelne auch in der 1841 vollendeten
„romantischen Oper“ „Der Fliegende
Hollander“ entgegen. „Erlosung“ findet
der moderne Ahasver mitsamt seiner
kongenialen, ihrem gesellschaftlichen
Umfeld gleichfalls entfremdeten Partnerin
Senta in diesem Drama noch in
einem Jenseits, dessen christlicher Charakter
indessen nicht allzu deutlich ist.
Im „Tannhauser“, der 1845 vollendeten
„grosen romantischen Oper“,
kehrt der Abweichler jedoch wieder in
den Schos der Kirche und der Feudalordnung
zuruck und findet seine christlich-
himmlische Erlosung. Im Rahmen
des musikdramatischen Gesamtwerkes
erscheint „Tannhauser“ wie eine Regression,
denn bereits im folgenden
Musikdrama „Lohengrin“ ereignet sich
ein thematischer Qualitatssprung, geschieht
etwas Revolutionares. Auch dieses
1848 vollendete Werk firmiert noch
als „Romantische Oper“, aber unter den
Chiffren der Romantik verbirgt sich ein
Drama der Moderne. „Lohengrin“ offnet
den Zugang zu Gedankenwelten, denen
keine der Gestalten in Wagners folgenden
Werken mehr entkommen kann.
Das es sich bei alldem um etwas Politisches
handeln mus, last die zeitliche
Nahe von Wagners Schriften zu „Lohengrin“
erahnen, die Titel tragen wie
„Die Revolution“ oder „Der Mensch und
die bestehende Gesellschaft“, beide aus
dem Jahr 1849, wie auch die bereits im
ersten Teil dieses Aufsatzes (JF 33/12)
angefuhrten „sozialistischen“ Schriften
„Das Kunstwerk der Zukunft“ und „Das
Kunstlertum der Zukunft“.
Zunachst fuhlte sich Wagner nicht zur
Lohengrin-Sage hingezogen. Das anderte
sich aber schon bald, denn in in seiner
„Mitteilung an meine Freunde“ (1851)
schreibt er, das er im Mythos des Schwanenritters
„kein eben nur der christlichen
Anschauung entwachsenes, sondern ein
uralt menschliches Gedicht“ erkannte.
Die Kategorie „christlich-romantisch“ sei
nur eine Auserlichkeit, denn im Grunde
bringe der Mythos die Sehnsucht des
Menschen nach dem Gotte und Gottes
nach den Menschen zum Ausdruck.
Diesen Kern mythischer Weltsicht hatten
alle Volker durch die Zeiten in ihren
Mythen bewahrt.
Im Mythos von Zeus und Semele erkennt
Wagner die Grundgestalt der Lohengrin-
Erzahlung: Der Gott liebt ein
menschliches Madchen und nahert sich
ihr als Mann in menschlicher Gestalt,
aber Gott und Mensch konnen nicht
von gleich auf gleich miteinander umgehen,
der Mensch ertragt die Unmittelbarkeit
der Gottheit nicht. Als Zeus
sich der Konigstochter in seiner wahren
Gestalt zeigt, vergluht sie.
Wie jeder genuine Mythos ist auch
der Kunstmythos vieldeutig, daher kann
Shaws „sozialistische“ Erklarung des
„Ring“ erganzend und gleichberechtigt
neben Robert Doningtons psychologische
und Lynn Snooks symbolgeschichtliche
Deutungen treten. „Lohengrin“ ist
oft als Drama des modernen Kunstlers
verstanden worden. Diese Deutung ist
nicht falsch, greift aber zu kurz. „Lohengrin“
ist auch eine politische Dichtung,
ein Ausdruck der Ara zwischen
den beiden Revolutionen von 1830 und
1848. Die Anspielung auf den Sieg Konig
Heinrichs I. uber die Ungarn an der
Unstrut im Jahr 933 wurde von Wagners
Zeitgenossen als Appell zur deutschen
Einigung und zum Widerstand gegen
das Zarenreich als Hauptstutze der restaurativen
Bestrebungen der deutschen
Fursten verstanden.
Um aber die politische Aussage des
„Lohengrin“ noch besser zu verstehen,
mussen wir uns der Gestalt der Ortrud
zuwenden. Sie ist die „politische Frau“
(Hans Mayer), die machtige Gegenspielerin
des Schwanenritters. Elsa ist
fur Wagner nur der „andere Teil“ von
Lohengrin, nicht, wie Ortrud, der ihm
fern liegende, absolute Gegensatz. So
wie die Geschichte von Zeus und Semele
der Beziehung von Elsa und Lohengrin
mythische Tiefe verleiht, so
gestaltet Wagner auch das Verhaltnis
Lohengrins und Ortruds zueinander
durch ein mythisches Motiv: das Motiv
des Drachenkampfes. Es bleibt zwar in
seinen Reflexionen uber „Lohengrin“
ungenannt, im „Ring des Nibelungen“
greift er es aber ganz bewust in der Gestalt
des Fafner auf. Erst wenn man dieses
Motiv zur Deutung des „Lohengrin“
heranzieht, wird deutlich, welch neue
Weltsicht Wagner sich in diesem Musikdrama
erschliest.
Prof. Dr. Thomas Bargatzky lehrte bis 2011
Ethnologie an der Universität Bayreuth. Den
dritten und letzten Teil der Wagner-Serie lesen
Sie nächste Woche in der JF-Ausgabe 35/12
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