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Winterqual und Frühlingshoffnung
„Nach grüner Farb’ mein Herz verlangt“, Lieder unseres Volkes
Zu einer herb-schönen Melodie
von Michael Praetorius
(1571 – 1621) aus dem Jahre
1610 wird ein Text gesungen, der
ähnlich alt zu sein scheint, es aber
nicht ist:
Nach grüner Farb mein Herz verlangt
In dieser trüben Zeit.
Der grimmig Winter währt so lang,
Der Weg ist mir verschneit.
Die süßen Vöglein jung und alt
Die hört man lang nit meh;
Das tut des argen Winters G’walt,
Der treibt die Vöglein aus dem Wald
Mit Reif und kaltem Schnee.
Der Steglitzer Gymnasiallehrer
Max Pohl hat sich 1911 ganz in den
Sprachstil der Zeit kurz vor Ausbruch
des Dreißigjährigen Krieges
eingefühlt und auf die Melodie des
geistlichen Liedes „Nach ewiger
Freud’ mein Herz verlangt“ eine
Klage über die quälend lange Winterszeit
gedichtet. Das geistliche
Lied, das Pohl umschrieb, war
schon die Kontrafaktur (neuer Text
zu einer bekannten Liedmelodie) eines
Liebesliedes aus dem Jahr 1582:
„Nach grüner Farb’ mein Herz verlangt,
da ich in Elend was (= war).“
Als Volkslied empfunden
Um 1900 entstand in Steglitz, das
damals noch nicht nach Berlin eingemeindet
war, der Wandervogel,
freundlich geduldet, mitunter sogar
gefördert vom Lehrerkollegium des
Gymnasiums. Einer der eifrigsten
Förderer war Pohl. 1924 schrieb er
in einer Rückschau: „Ich ging eines Abends an dem langen Drahtzaun
des alten verwilderten Geländeanteils
entlang, der später den Grundstock
zu der gärtnerisch meisterhaften
Anlage des Steglitzer Stadtparks
abgegeben hat. (…) Wer hinein wollte,
musste über den Zaun klettern.
(…) An jenem Abend klang mir aus
einem dichten Gebüsch mehrstimmiger
Gesang einiger hübscher Knabenstimmen
herüber, und zwar sangen
sie ein Lied, das wir soeben im
Chor geübt hatten, das alte, schwermütige
‚Ich hört’ ein Sichelein rauschen’.
(…) In der nächsten Chorstunde
fragte ich, wer denn die Sänger
gewesen seien, erhielt aber nur
den Bescheid: ‚Ach, dort singen immer
abends die Wandervögel!’“
Von einem Sekundaner, Mitglied
des Wandervogels, bekam Pohl
dann „begeisterte Auskunft: Sie kämen
fast alle Abende dort zusammen,
um zu singen, und es wäre
sehr fein; ich müsste einmal hinkommen“.
Pohl tat das und wurde
sogar Mitglied im Steglitzer Wandervogel,
von den Jugendlichen als
„musikalischer Berater“ akzeptiert.
Pohls Umarbeitung des Praetorius-
Liedes traf die Gefühlslage und
den Geschmack der Wandervögel.
Wenn später in Jugendbünden und
Schulen Volkslieder gesungen wurden,
war sehr oft auch Pohls Liedfassung
dabei und wurde von den
Sängern als Volkslied empfunden.
Folglich fehlt Pohls Name in relativ
vielen Liederbüchern und Textblättern
bei den Angaben zu Text und
Weise.
Schon vor Pohl hatte sich ein jugendliches
Mitglied des Steglitzer Wandervogels an eine Neufassung
des Praetorius-Liedes gemacht: Siegfried
Copalle. Unter seine Fassung
setzte er den Zusatz: „Einer Volksweise
des 15. Jahrhunderts unterlegt,
1905“, doch eine Volksweise war das
Lied eben nicht gewesen. Wie nach
ihm Pohl setzte Copalle auf den Gegensatz
von Winter und Frühling. In
der letzten Strophe redete Copalle
den personifizierten Frühling an: „O
Frühling, du mein lieber G’sell, mit
dir ist wandern gut; dein Aug’ ist
klar, dein Blick ist hell, schlägt mir
wie Feu’r ins Blut.“ Pohl empfand
wohl die Unzulänglichkeit dieses
Versuchs und schuf für die Wandervögel
seine einfühlsamere Version.
Anklänge an
altes Brauchtum
Auch Pohl nahm in seiner zweistrophigen
Fassung eine Personifizierung
von Winter und Frühling vor.
Bei ihm erhielt dieser Kunstgriff
Durchschlagskraft, weil er sich deutlich
auf alte Volksbräuche bezog, daher
setzte er statt „Frühling“ den
„Sommer“: „Gott geb’ dem Sommer
Glück und Heil, der zieht nach Mittentag
am Seil, dass er den Winter
zwingt.“
In manchen Gegenden unseres
Kulturraums wurde, seit dem 16.
Jahrhundert nachweisbar, am Sonntag
Laetare, also auf Mittfasten (Mitte
der Fastenzeit) ein Winteraustreiben
veranstaltet. Hauptbestandteil
der Brauchtumshandlungen war ein
Seilziehen zwischen Winter und
Sommer, das der Sommer gewann.
Der Winter, durch eine Strohpuppe
dargestellt, wurde aus dem Ort hinausgetrieben
(und mancherorts
verbrannt). Pohl als Leser vieler alter
Liedhandschriften und -sammlungen
kannte sehr wahrscheinlich das
alte Lied „So treiben wir den Winter
aus“ und ließ sich von ihm für die
Schlusszeilen von „Nach grüner
Farb’“ inspirieren.
Millionen Deutsche haben Pohls
Sehnsuchtslied in Jugendbünden,
Sängerkreisen, Schulen gesungen.
Wer das Lied irgendwann gelernt
hat, fühlt sich an bestimmte Zeilen
erinnert, wenn einmal ein besonders
harter und trüber Winter durchzustehen
ist. Aber das Klagen über
Schnee und Eis und farbliche Eintönigkeit
in der Natur ist immer nur die eine Seite unserer Gefühlsregungen.
Schon der Wandsbecker Bote,
Matthias Claudius, hat in seinem berühmten
Gedicht „Der Winter ist ein
rechter Mann“, zumindest unterschwellig
angedeutet, dass auch Gegenteiliges
in unserem Gefühlsleben
möglich wäre.
Wandern und Übernachten in der
Schneelandschaft wurde seit den
1930er-Jahren in Teilen der deutschen
Jugendbewegung zu einer
Attraktion. Wichtige Voraussetzung
war die Einführung
der Kohte, des beheizbaren
lappischen Zeltes (mit
Rauchöffnung), das Jungenschaftler
von einer Nordlandfahrt
mitgebracht hatten. Nun
entstanden Lieder, in denen
keineswegs mehr über den
„grimmig’ Winter“ geklagt
wurde. Neben der Kohten-
Nacht (mit dem wärmenden
Feuer) wurde die Skiwanderung
zum Erlebnis: „Haltet die
Spur in Schnee und Nebel,
singt durch das Grau das Bergeslied.
Wir spuren still im Weiß der Hügel,
singende Schar, die bergwärts
zieht.“ Der Sehnsuchtsradius hatte
sich ausgeweitet, wie Alf Zschiesches
weit verbreitetes Lied „Wenn
die bunten Fahnen wehen“ erkennen
lässt: „Schneefelder blinken,
schimmern von ferne her, Lande
versinken im Wolkenmeer.“
Die Sehnsucht nach der
Rückkehr des Frühlings ist
ein beliebtes Motiv in der
Kunst, nicht zuletzt, weil sie
als Metapher für Seelennot
und Erlösung dient. 1897
versuchte sich der Maler
heinrich Vogeler (1872 –
1942) in Worpswede mit
diesem Ölbild am thema,
zwei Jahre später veröffentlichte
er Gedichte: „Du wilder
rasender Frühlingswind,
grüß in der Ferne mein goldiges
Kind!“
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